
Himmelkron, 04. Juni 2024 – Klaus Emmerich, Mitgründer des Bündnis ‚Klinikrettung‘ auf Bundesebene und der Aktionsgruppe ‚Schluss mit Kliniksterben in Bayern‘, ist ein Mann der Zahlen. Ihm sind zwei Zahlen besonders wichtig: 30 Minuten Fahrzeit bis zum nächsten Krankenhaus mit Basisnotfallversorgung und 15 Prozent Arbeitszeit, die durchschnittlich deutschlandweit in Krankenhäusern für das Kodieren und Dokumentieren von Fallpauschalen aufgewandt werden müssen; Zeit, in der das medizinische Personal am Patienten tätig sein könnte.
Mein Interview mit Stichworten, auf die der pensionierte Klinikleiter der kommunalen Häuser in Sulzbach-Rosenberg und Auerbach antwortet, beginnt mit einer Beleidigung:
Sind Sie ein verbohrter Ignorant, Herr Emmerich?
Klaus Emmerich: Manche mögen das glauben, aber ich werde Ihnen heute belegen, dass das nicht so ist.
Ziele der Bürgerinitiativen?
K E: „Unsere Ziele sind eine flächendeckende klinische Versorgung in ganz Deutschland, bei der jeder Mensch binnen 30 Fahrzeitminuten ein Krankenhaus der Grund- und Regelversorgung einschließlich Basisnotfallversorgung erreicht. Dies ist in lebensbedrohenden Situationen notwendig. Dieser Zustand ist momentan weitgehend erreicht, aber wir haben bereits in Bayern 127 Postleitzahl-Regionen, wo das nicht mehr der Fall ist. Zu den Mindeststandards zählen aus unserer Sicht Innere Medizin, Chirurgie, Gynäkologie, Geburtshilfe, Intensivmedizin und Basisnotfallversorgung.“
„Wir haben weder das Personal noch die Ressourcen noch den Bedarf für 1720 Krankenhäusern“, sagt Gesundheitsminister Karl Lauterbach. Was sagen Sie?
K E: „Wir haben den Bedarf an Krankenhäusern eindeutig, wie die Corona-Pandemie gezeigt hat. Während der Pandemie mussten Patienten zwischen Bundesländern verlegt werden, weil die Kapazitäten nicht ausreichten. Lauterbach argumentiert aus einer Position des Mangels, mit zu wenig Ärzten und Pflegekräften, was jedoch verschwiegen wird, ist die ineffiziente Nutzung des Personals. 15% ihrer Arbeitszeit gehen für die Kodierung und Dokumentation der DRG-Fallpauschalen1 verloren. Würden wir ein anderes Vergütungssystem einführen, das diese Bürokratie nicht erfordert, könnten die vorhandenen Mitarbeiter 15% mehr Zeit mit den Patienten verbringen, ohne zusätzliche Kosten. Das entspricht bundesweit immerhin 161.600 klinischen Mitarbeitern bzw. 123.000 Vollzeitkräften. Das würde viele Personalengpässe lösen.“
Anderes Vergütungssystem?
K E: „Ja, das Vergütungssystem könnte auf Selbstkostendeckung der Krankenhäuser umgestellt werden. Krankenhäuser würden monatliche Vorschüsse erhalten und am Jahresende eine Abrechnung auf Basis eines Wirtschaftsprüfertestats vornehmen. Dadurch erhalten defizitäre Krankenhäuser mehr Geld , während renditeorientierte Kliniken keine Gewinne mehr machen würden. Jedes Krankenhaus würde eine schwarze Null schreiben, also weder Gewinn noch Verlust erzielen. Momentan fließt bei renditeorientierten Kliniken Geld aus dem Gesundheitswesen ab, weil sie sich auf lukrative Bereiche, wie die Orthopädie, konzentrieren und die Notfallversorgung vernachlässigen. Durch die Abschaffung der DRG-Fallpauschalen könnte dieser wirtschaftliche Druck reduziert und eine bedarfsorientierte Krankenhausversorgung sichergestellt werden.“
Bedarf?
K E: „Der Bedarf ist seit der Corona-Pandemie zwar zurückgegangen, aber wir brauchen weiterhin Standorte in der Fläche. Gesundheitsminister Lauterbach plant, Standorte zu schließen und wichtige Leistungen selektiv zu vergeben. In einigen Regionen, besonders an der deutsch-tschechischen und deutsch-österreichischen Grenze, können über 30.000 Einwohner kein Krankenhaus mehr innerhalb von 30 Minuten erreichen. Es ist wichtig, dass Krankenhäuser in der Nähe bleiben, unabhängig von ihrer Größe. Lauterbachs Vorschlag, Krankenhäuser der Grund- und Regelversorgung in sektorenübergreifende Versorgungszentren umzuwandeln, bedeutet ärztliche Präsenz nur noch tagsüber und erschwert die durchgehende Notfallversorgung. Bei schweren Unfällen oder Herzinfarkten kann dies lebensentscheidend sein. Es muss ein Krankenhaus mit Basisnotfallversorgung innerhalb von 30 Minuten erreichbar sein, um lebensrettende klinische Erstversorgung zu gewährleisten, bevor der Patient in ein spezialisiertes Krankenhaus verlegt wird. Sektorenübergreifende Versorgungszentren sind dafür nicht geeignet.“
Notfallversorgung im Rettungswagen oder Hubschrauber für den Transport in Großkliniken?
K E: „Wenn die Regierungskommission die Behandlung von Schlaganfällen und Herzinfarkten auf große Häuser konzentriert, lässt sie außer Acht, dass jedes Krankenhaus beispielsweise mit einer geriatrischen Fachabteilung zwangsläufig solche Fälle behandeln muss. Wenn ein Patient während seines Aufenthalts im Grund- und Regelversorgungskrankenhaus einen Schlaganfall oder Herzinfarkt erleidet , wird erste Hilfe geleistet, bis eine Verlegung möglich ist. Solche Behandlungen werden von der Regierungskommission als unberechtigt angesehen. Das ist nicht fair! Auch die Entscheidung der Kommission, dass Krebsbehandlungen nur in großen Krankenhäusern stattfinden sollen, erscheint auf den ersten Blick logisch wegen der besseren Expertise dort. Aber ab dem Zeitpunkt, wo ich austherapiert bin, möchte ich selbst entscheiden können, ob ich für die Behandlung der Nebenwirkungen meines unheilbaren Krebses ins nächste Krankenhaus gehe oder 200 Kilometer reisen muss. Ich möchte in der Nähe meiner Familie und Freunde sein. Kleine Krankenhäuser können in bestimmten Fällen notwendige Behandlungen durchführen, selbst wenn sie normalerweise nicht dafür vorgesehen sind. Diese Flexibilität ist wichtig und wurde auch in den Krankenhäusern, die ich geleitet habe, so praktiziert.
Es wird argumentiert kleine Krankenhäuser durch gut ausgestattete Rettungswagen und Hubschrauberlandeplätze zu ersetzen, um Patienten schnell in große Krankenhäuser zu bringen. Doch glauben Sie, dass das in zwei Jahren Realität wird? Es fehlen die nötigen Ärzte, Hubschrauber und Hubschrauberlandeplätze. Die Idee, dass Hubschrauber alle Funktionen eines Krankenhauses übernehmen können, ist unrealistisch und hilft nur in bestimmten Fällen. Ein Hubschrauber kann keinen Intensivplatz ersetzen, keinen Schockraum vorhalten, kein interdisziplinäres Ärzteteam ersetzen. Es sind kein CT (Computertomograf) oder MRT (Magnetresonanztomograf) an Bord.“
Ein Krankenhaus der Grund- und Regelversorgung ist wegen der Notaufnahme und Intensivstation mit mindestens sechs Betten, die rund um die Uhr besetzt ist, sehr teuer. Könnte ein sektorenübergreifendes Versorgungszentrum hier Abhilfe schaffen, eventuell auch mit Übernachtungsmöglichkeiten?
K E: „Das ist eine charmante Idee für jeden Patienten, solange er kein Notfallpatient mit lebensbedrohenden Erkrankungen ist. Wir sträuben uns nicht gegen ein sektorenübergreifendes Versorgungszentrum, auch nicht im ‚Bündnis Klinikrettung‘. Wir sehen es als Ergänzung, weil es vielfach Lücken in der ambulant-ärztlichen Versorgung schließen kann. Im Einzelfall kann man auch prüfen, ob ein geschlossenes Krankenhaus an der Stelle keine Versorgungslücke reißt mit 30 Fahrzeitminuten. Ein sektorübergreifendes Versorgungszentrum kann aber kein Krankenhaus ersetzen, weil das MRT und der CT fehlen, der durchgehend anwesende Arzt fehlt ebenfalls. Eine Pflegekraft entscheidet über die Erstintervention. Eine Intensivstation und Notaufnahme gibt es auch nicht.
Die Bundespolitik setzt auf Konzentrationsprozesse im Krankenhauswesen, was wir kritisch sehen. Es reicht nicht, nur statistisch zu erfassen, wie viele Betten durchschnittlich belegt sind; man muss die Versorgungssituation in jeder Region betrachten. Wir sperren uns nicht gegen Verschiebungen, aber die 30-minütige Erreichbarkeit muss gewährleistet bleiben. Bundesweite Kriterien für Leistungsgruppen führen zu Ausschlusskriterien für kleinere Krankenhäuser, was problematisch ist. (Anm.: Die zugeordneten Leistungsguppen entscheiden darüber, welche Standorte welche Leistungen unter den gesetzten Voraussetzungen erbringen dürfen). Ein Beispiel ist Wegscheid bei Passau, wo Verschärfungen der Richtlinien dazu führen, dass die stationäre Notfallversorgung wegfällt und somit die Versorgung für 20.000 Einwohner gefährdet wird. Eine bundesweite Qualitätsvorgabe ohne lokale Anpassung ist Mangelverwaltung. Man muss bedarfsorientiert vorgehen und sicherstellen, dass notwendige Krankenhäuser die geforderten Voraussetzungen erfüllen können.“
Das Kreuz der kommunalen Krankenhäuser
K E: „Im Moment sind es überwiegend Kliniken in kommunaler Hand, die entweder insolvent gehen oder deren Teilschließung bekanntgegeben wurde – im Regelfall aus wirtschaftlichen Gründen. Das Kernproblem der kommunalen Krankenhäuser liegt in ihrem Auftrag, eine umfassende allgemeinklinische Versorgung zu bieten, was hohe Vorhaltekosten verursacht. Diese Krankenhäuser müssen Notfälle, spezialisierte Chirurgie und Intensivmedizin abdecken, was in ländlichen Regionen selten voll ausgelastet ist. Ein CT und ein MRT wird hier nie komplett ausgelastet sein. Im Extremfall verfügt das Haus sogar über ein kostenintensives Herzkatheterlabor und/oder eine Stroke-Unit (Schlaganfalleinheit). Alternativ kann sich die Klinik spezialisieren, verliert dann aber ihre Funktion als allgemeines Krankenhaus. Private Kliniken können wirtschaftlich sinnvoller operieren, da sie nicht den gleichen umfassenden Versorgungsauftrag erfüllen und wirtschaftlich unrentable Bereiche schließen Dies führt jedoch zu Lücken in der Notfallversorgung. Der Landkreis ist laut Landkreisordnung in Bayern für die klinische Versorgung verantwortlich und betreibt Krankenhäuser. Betreibt er sie selbst, entstehen hohe Vorhaltekosten. Delegiert er den Betrieb an private Anbieter, haben diese freie Hand für zum Teil nicht bedarfsorientierte wirtschaftliche Optimierung.
Ein weiterer wichtiger Punkt betrifft die Klagen der privaten Klinikträger. Die Ökonomisierung der Krankenhäuser, das Fallpauschalensystem und die Zulassung privater und gemeinnütziger Klinikträger haben die Kliniklandschaft in den letzten 30 Jahren verändert. Private und gemeinnützige Kliniken beklagen Wettbewerbsnachteile. Sie fordern, dass Landkreise oder kreisfreie Städte als Träger der Krankenhäuser Verluste zukünftig nicht mehr ausgleichen dürfen. Sie übernehmen dann die kommunalen Klinikstandorte oder gewinnen Patienten aus geschlossenen kommunalen Krankenhäusern. Dabei wird oft verschwiegen, dass die Ökonomisierung bereits jetzt extreme Wettbewerbsnachteile für kommunale Krankenhäuser verursacht. Kommunen sind eng an den Auftrag der stationären Versorgung gebunden! Es gelten strenge Maßstäbe , was kommunale Krankenhäuser ambulant anbieten dürfen. Ein MVZ (Medizinisches Versorgungszentrum) in kommunaler Hand muss am Krankenhausgebäude und fachgleich sein. Private Krankenhäuser können hingegen große MVZs betreiben, ohne Ortsbindung. Sie dürfen auch ihre Küchen und Reinigungsabteilungen maximal auslasten, z.B. durch die Versorgung benachbarter Altenheime, und damit Gewinne erzielen. Ein kommunales Krankenhaus darf das nicht, da es nicht seinem Versorgungsauftrag entspricht. Dies führt zu ungleichen Wettbewerbsbedingungen im klinischen Bereich, obwohl letztlich es um Leben und Überleben von Menschen geht.“
Welche Herausforderungen haben Sie bei der Mobilisierung der Öffentlichkeit und der politischen Unterstützung für Ihr Anliegen erlebt?
K E: „Eine große Herausforderung ist, dass das System der DRG-Fallpauschalen ein Tabuthema ist, da viele Kliniken damit Gewinne machen. Unser Vorschlag der Selbstkostendeckung ist in der Presse schwer zu platzieren. In drei Jahren gelang es nur zweimal, Aufmerksamkeit dafür zu bekommen. Zudem muss erst die Presse über Krankenhausschließungen berichten, damit die Öffentlichkeit davon erfährt und aktiv wird. In einigen Regionen wird jedoch kaum berichtet, was die Mobilisierung erschwert. Wir sind auf die Presse angewiesen, um Protestaktionen, Petitionen und fachliche Unterstützung bekannt zu machen.“
Das Programm Ihrer Organisationen?
„Das Aktionsbündnis schlägt folgende Maßnahmen vor, um das Kliniksterben zu stoppen und die medizinische Versorgung in Bayern zu verbessern:
- Selbstkostendeckung der Krankenhäuser: Keine Gewinne und keine Verluste, sondern ein genauer Ausgleich der entstandenen Kosten. Dadurch würden Krankenhäuser nicht mehr aus ökonomischen Gründen schließen und keine Gewinne abgeschöpft werden. Diese bleiben im Gesundheitssystem und kommen den Beitragszahlern zugute.
- Sicherstellung der 30-Minuten-Erreichbarkeit eines Krankenhauses mit den Mindeststandards für die medizinische Versorgung, einschließlich Innere Medizin, Chirurgie, Gynäkologie, Geburtshilfe, Intensivmedizin und Basisnotfallversorgung.“
Herr Emmerich, Danke für das Gespräch! Das Interview führte Franka Struve-Waasner

Das DRG-System ist ein pauschalisierendes Abrechnungssystem, bei dem stationäre Krankenhausbehandlungen, weitestgehend unabhängig von der Verweildauer des Patienten über Fallpauschalen abgerechnet werden. „DRG“ steht dabei für „diagnosis-related groups“. DRG -Leistungen werden durch Landesbasisfallwerte festgelegt. Sie werden jährlich von den Krankenhausgesellschaften und Krankenkassen auf Landesebene ausgehandelt. Das bedeutet, dass ein Krankenhaus nur durch Steigerung der Fallzahlen seinen Umsatz steigern kann. Es kann nicht selber die Preise für eine Leistung anheben.
Zwei Kritikpunkte:
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