Aalen, 17.06.2024 – Spätestens seit Stuttgart 21 ist die ausgeprägte Kultur der Bürgerbeteiligung in Baden-Württemberg auch im Rest der Republik bekannt. Wie lässt sich einerseits ein Bürgerdialog gestalten, der auf eine breite Akzeptanz der Bevölkerung trifft, ohne anderseits die Entscheidungen des politischen Souveräns – Kreisrat, Stadtrat – infrage zu stellen? Im Ostalbkreis setzte man 2023 auf Bürgerdialog und Zufallsbürgerforum, um die Krankenhauslandschaft im Landkreis neu zu strukturieren. Bei einer Veranstaltung des Verein Healthcare Bayern zeigen Lena Kümmel, persönliche Mitarbeiterin des Landrats, und Frank Ulmer vom Stuttgarter Kommunikationsbüro Ulmer GmbH, Lösungen auf.

Lena Kümmel beschreibt die Ausgangslage: Im Ostalbkreis stehen drei Krankenhäuser unter öffentlicher Trägerschaft des Landkreises in der Rechtsform einer gemeinnützigen kommunalen Anstalt des öffentlichen Rechts zur Verfügung, zusätzlich zu einer kleinen Fachklinik und einer privaten Klinik. Diese drei Krankenhäuser verfügen zusammen über etwa 1.100 Planbetten, wobei die Strukturen seit den letzten 20 Jahren kaum verändert wurden. Die Krankenhäuser sind doppelt oder dreifach in ihren Angeboten aufgestellt, was ineffizient ist und zu Herausforderungen führt. Diese sind:
- Personalmangel: Die Kliniken sind stark auf teure Honorarkräfte angewiesen.
- Strukturelle Probleme: Die Qualitätssicherung ist schwierig, da die Bettenzahl auf drei Standorte verteilt ist, was zu Ineffizienzen führt.
- Finanzielle Defizite: Der finanzielle Druck hat sich in den letzten Jahren erheblich verschärft. Während der Landkreis früher Defizite von etwa 10 Millionen Euro problemlos ausgleichen konnte, stiegen die Defizite bis 2023 auf 39 Millionen Euro an, und für 2024 wird ein Defizit von 60 Millionen Euro prognostiziert.
- Notwendigkeit von Strukturveränderungen: Die zunehmenden finanziellen und strukturellen Probleme erfordern eine Konzentration und Zentralisierung der Krankenhausstrukturen im Landkreis. Diese Veränderungen stoßen jedoch auf politische Hindernisse, da die Kreistagsmitglieder oftmals aus den Regionen stammen, in denen die bisherigen Krankenhäuser stehen, und regionale Interessen eine Rolle spielen
Nach intensiven Diskussionen und externen Gutachten fiel im Sommer 2023 der Grundsatzbeschluss für ein neues Zukunftsmodell namens „Regionalversorgung“. Ein wesentlicher Punkt dieses Modells ist der Bau einer neuen zentralen Klinik in der Mitte des Landkreises, die durch ihre Anbindung an die Bundesstraße gut erreichbar ist. Zwei der bestehenden Kliniken sollen in einen Grund- und Regelversorger bzw. in einen sektorenübergreifenden Versorger umgewandelt werden.
Angesichts der Transparenz des Prozesses und des öffentlichen Drucks, der durch Medienberichterstattung und Bürgerinitiativen entstanden war, wurde 2023 eine Bürgerbeteiligung gestartet. Ziel: Die Entscheidungsfindung der Kreistagsmitglieder unterstützen und sicherstellen, dass viele Meinungen berücksichtigt werden.
Frank Ulmer erläutert die Schritte: Im Rahmen der Umstrukturierung der Krankenhauslandschaft wurde ein umfassendes Kommunikations- und Beteiligungskonzept entwickelt, um die Bürger einzubeziehen. Die Vorgehensweise umfasste Bürgerdialoge und Zufallsbürgerforen. Dabei wurde der Fokus auf Transparenz und eine breite Beteiligung der Bevölkerung gelegt.

Themenlandkarte und Stakeholder-Gespräche
Zuerst wurde eine „Themenlandkarte“ erstellt, um alle relevanten Themen und Betroffenheiten im Rahmen der Umstrukturierung zu identifizieren. Diese Themen wurden in Diskussionen mit Stakeholdern aus der Bürgerschaft (z.B. Vereine, Interessenvertretungen, Sportvereine) sowie der Presse geprüft, um sicherzustellen, dass keine Themen – kein eigenes Agendasetting!- ausgeklammert werden und die Bürgerbeteiligung als wertvoll wahrgenommen wird.
Anschließend organisierte das Kommunikationsteam Bürgerdialoge als Informationsveranstaltungen, nicht direkt als Bürgerbeteiligung. Dabei wurden sogenannte „Themeninseln“ eingerichtet, bei denen Bürger zu sechs relevanten Themen, wie Standortfragen oder Notfallversorgung, informiert wurden. Diese Themeninseln auf Metaplanwänden waren frei über einen Raum verteilt mit wenig Sitzmöglichkeiten. Experten standen den Bürgern an diesen Inseln für Fragen zur Verfügung. Das Ziel war es, einen direkten Dialog auf Augenhöhe zu ermöglichen, um Emotionen zu deeskalieren und faktenbasierte Diskussionen zu fördern. Bürger konnten ihre Anregungen schriftlich hinterlassen, die später veröffentlicht wurden auf: https://www.kliniken-ostalb.de/zukunftskonzept/buergerdialoge

Das Kernstück der Bürgerbeteiligung waren die Zufallsbürgerforen. Hierbei wurden 51 zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger aus verschiedenen Gemeinden des Landkreises rekrutiert, um über fünf Sitzungen hinweg die aktuelle und zukünftige Gesundheitsversorgung zu diskutieren. Insgesamt wurden 2.700 Personen aus 27 Kommunen angeschrieben. Die Teilnehmenden, die sich rückgemeldet haben, setzten sich aus einer heterogenen Gruppe von Männern und Frauen im Alter von 16 bis 77 Jahren zusammen. Ziel dieser Foren war es, eine breite Perspektive der Lebenswelten abzubilden und Empfehlungen für den Kreistag zu formulieren. Die Betonung lag auf Empfehlung bzw. Wunsch. Die Bürger bekamen auch eine Aufwandsentschädigung, um eine diverse Teilnahme zu gewährleisten.
„Der Prozess der Zufallsbürgerbeteiligung ist methodisch sorgfältig geplant, um Manipulationen zu vermeiden“, sagt Frank Ulmer. Es wurde darauf geachtet, dass alle Sitzungen transparent und nachvollziehbar durchgeführt wurden. Die Bürger arbeiteten selbstbestimmt und konnten Experten einladen, um spezifische Themen tiefer zu behandeln. Die Ergebnisse des Zufallsbürgerforums wurden als Empfehlungen formuliert, nicht als verbindliche Entscheidungen.
Die Ergebnisse der Zufallsbürgerforen spiegelten oft differenzierte Ansichten wider, die nicht immer mit den Forderungen von Bürgerinitiativen und Fördervereinen übereinstimmten – Ein Beleg dafür, dass Zufallsbürger eine breitere Perspektive entwickelten und nicht nur Partikularinteressen folgten.
Frank Ulmer fasst zusammen: „Insgesamt erwies sich dieses Format als erfolgreich, da es zu einer konstruktiven, faktenbasierten Diskussion führte und den Bürgern die Möglichkeit gab, aktiv an der Entscheidungsfindung mitzuwirken.“
Resonanz
Die Kommunikationsstrategie des Ostalbkreises war eng auf die regelmäßig stattfindenden Gremiensitzungen abgestimmt. Als die Empfehlungen des Zufallsbürgerforums im Gremium vorgestellt wurden, nahmen zwei oder drei Zufallsbürger an der Präsentation teil, und die Ergebnisse wurden schriftlich sowie in einer Pressemitteilung veröffentlicht. In der Presse gab es Diskussionen zwischen den Oberbürgermeistern der Städte, die Krankenhäuser beherbergen, die aber durch die Aufforderung, nicht nur lokale Interessen zu vertreten, beeinflusst wurden.
Die Empfehlungen des Zufallsbürgerforums und des Bürgerdialogs trugen dazu bei, dass sich die Kreistagsmitglieder auf das größere Ziel einer zentralen Gesundheitsversorgung für den gesamten Landkreis konzentrierten, anstatt an regionalen Interessen festzuhalten. In der Kreistagssitzung wurde der Neubau eines Zentralklinikums mehrheitlich bei nur einer Gegenstimme und einer Enthaltung (von 73 Kreisräten) beschlossen, also mit breiter fraktionsübergreifender Zustimmung.
Der Bürgerbeteiligungsprozess hatte einen stabilisierenden Einfluss auf die öffentliche Diskussion und die Bürgerinitiativen. Letztere übten die stärkste Kritik am Bürgerbeteiligungsprozess aus. Sie beanspruchten für sich, die „echten Bürger“ zu sein und somit die Legitimität zu haben, die Interessen der Allgemeinheit zu vertreten. In Wirklichkeit, so Ulmer, verfolgen Bürgerinitiativen oft Partikularinteressen, die sich vor allem auf bestimmte Standorte oder Anliegen beziehen. Aufgrund ihrer Nähe zur Bevölkerung haben sie jedoch oft die Macht, Mehrheiten zu mobilisieren, selbst wenn dies auf sozialem Druck basiert. Bürgerinitiativen sind zwar „selbst ernannte Experten“ und Lobbyisten, was Ulmer nicht negativ bewertet, aber sie sollten auch nur als solche betrachtet und in dieser Rolle eingebunden werden.
Durch die mediale Aufmerksamkeit auf den Zufallsbürgerprozess und die vorherigen Informationsveranstaltungen wurde ein Großteil der Emotionen und Widerstände gemildert, wodurch die Freundeskreise der Kliniken und Bürgerinitiativen ihre öffentlichen Aktivitäten reduzierten. Ohne diesen Beteiligungsprozess wäre ein so klares Ergebnis nicht möglich gewesen.
Lessons Learned
Der Kommunikationsexperte zitiert das Thomas-Theorem: „‘If men define situations as real, they are real in their consequences‘, will heißen, wenn die Leute ein Problem sehen – ob das berechtigt ist oder nicht – dann ist das Problem da und das ist die Perspektive, mit der man die Sache bearbeiten sollte.“
Um Mehrheiten zu gewinnen und Perspektiven zu integrieren, sei es wichtig, die Vielfalt der Meinungen zu berücksichtigen. Durch die Vernetzung im Internet und die zunehmenden Unsicherheiten bei komplexen Themen, wie z.B. dem Klimawandel, wird die Mobilisierung von Protesten einfacher. Zudem gibt es einen Vertrauensverlust in die Problemlösungsfähigkeit der Politik.
Schlussendlich hänge es vom Menschenbild der Entscheidungsträger ab, das sich dahinter verbirgt, so Ulmer: „Die Kreisräte wollten nicht nur intern beraten, beschließen, verkünden, das Ergebnis verteidigen, sondern kooperativ sammeln, um Lösungsräume gemeinsam zu erkunden.“
- Eine Bürgerbeteiligung ist kein Volksentscheid oder Volksbegehren, sondern ein kooperativer Prozess, der darauf abzielt, viele verschiedene Lebenswelten durch zufällige Auswahl einzubringen. Dadurch wird die Legitimation der Ergebnisse erhöht, weil diese die Vielfalt der Gesellschaft widerspiegeln. Der Prozess sollte frühzeitig und kooperativ durchgeführt werden, damit Ergebnisse gemeinsam entwickelt und umgesetzt werden, anstatt Entscheidungen nur verkündet und verteidigt werden.
- Eine Bürgerbeteiligung sollte nur dann durchgeführt werden, wenn die beteiligte Organisation bereit ist, den Aufwand zu tragen und klare Ziele formuliert hat. Es ist wichtig, sich darüber im Klaren zu sein, warum die Beteiligung durchgeführt wird und welche Erwartungen damit verknüpft sind. Es ist essenziell, dass alle beteiligten Akteure wissen, warum die Beteiligung stattfindet und welches Ziel sie verfolgt. Unterschiedliche Wahrnehmungen sollten akzeptiert werden, da Menschen unterschiedliche Ängste und Bedenken haben, die ernst genommen werden müssen.
- Auf eine Bürgerbeteiligung müssen auch Kreisräte oder Gemeinderäte vorbereitet werden. Der Umgang mit den Ergebnissen aus Beteiligungen muss auch von „Räten“ „geübt“ werden. Es ist ganz zentral, dass die Öffentlichkeit spürt, dass die Abgeordneten sich intensiv mit den Ergebnissen auseinandergesetzt haben. Das können Sie beispielsweise in Reden im Rat zeigen bzw. immer wieder auf die Ergebnisse referieren „Auch die Bürgerbeteiligung zeigt, dass xyz….“
Empfehlungen für die Durchführung
Lena Kümmel empfiehlt:
- Bürgerbeteiligung sollte nur dann stattfinden, wenn der Prozess ergebnisoffen ist und echtes Zuhören möglich ist. Vermeiden Sie werbende Sprache, da Akzeptanz nicht erzwungen werden kann.
- Informationsveranstaltungen mit Themeninseln sind ein geeignetes Format, um emotionalisierte Diskussionen zu vermeiden. Durch den direkten Austausch mit Experten kann die Emotionalität der Diskussionen reduziert werden.
- Es sollte von Anfang an klar kommuniziert werden, welches Gremium die Ergebnisse der Beteiligung aufnimmt und wie mit den Empfehlungen umgegangen wird.
- Zeit- und Projektplanung: Eine klare Planung ist essenziell. Eine Definition, wer der Adressat der Ergebnisse ist und wer das Projekt in der Öffentlichkeit vertritt, ist unerlässlich. Die Beteiligten sollten gestaltende Akteure sein und nicht in eine verteidigende Haltung geraten, da dies in der Regel nicht zielführend ist. Das richtige Timing ist ein wesentlicher Erfolgsfaktor – zu früh im Entscheidungsprozess könnte problematisch sein, wenn noch nicht klar ist, wohin die Reise geht. Zu spät zu beginnen, wäre ebenfalls ungünstig, da dann eventuell schon festgelegte Entscheidungen kaum mehr diskutiert werden könnten.
Fazit
Im Fall des Ostalbkreises war es wichtig, Varianten und Möglichkeiten zur Diskussion zu stellen, anstatt nur eine fertige Lösung vorzulegen und die Zustimmung oder Ablehnung dazu zu erfragen.
Lena Kümmel gab zu bedenken, dass ein solcher Prozess mit Aufwand und Kosten verbunden sei. Die Durchführung des Projekts kostete rund 100.000 Euro. Dies sei jedoch gut investiertes Geld. Die Investition in Kommunikation parallel zu politischem Handeln sei entscheidend, um Mehrheiten zu gewinnen und das Verständnis der Bevölkerung für Entscheidungen zu fördern. Trotz des hohen Aufwands empfiehlt sie den Zufallsbürgerdialog als lohnende Methode.